ZUR GESCHICHTE DER GERMANISTIK IN WROCŁAW (1945-2013)
Die Gründung einer polnischen Germanistik im polnischen Wrocław (früher Breslau) bedeutete die Schaffung einer neuen Studienrichtung in einer Stadt, in der man bis 1950 die gesamte Bevölkerung infolge der Vertreibung und Ansiedlung „ausgetauscht” und die sprachlich und symbolisch fixierten Spuren der deutschen Präsenz beseitigt hatte. Andererseits musste der neu organisierte Lehrstuhl an die in Breslau bis 1945 bestehenden Traditionen der deutschen Germanistik anknüpfen, schon aufgrund der Tatsache, dass der Gründer des neuen polnischen germanistischen Lehrstuhls, Jan Piprek, polnischer Oberschlesier war und 1908 an der Germanistik in Breslau studiert hatte (Żarski 2011, 63-93). Darüber hinaus stammten viele Studenten der Anfangszeit aus Oberschlesien, also ähnlich wie zu deutschen Zeiten, als die Universität die Funktion einer Landesuniversität versah. Eine bedeutende Rolle spielten auch die Bibliothekssammlungen, vor allem die intakt gebliebene Bibliothek des „Deutschen Instituts” (so hieß seit 1927 das germanistische Institut in Breslau, Kunicki 2002), die eine sofortige Aufnahme der Studien ermöglichte.
Die Gründungsväter der polnischen Germanistik in Breslau waren entweder Literaturwissenschaftler, wie Zdzislaw Żygulski, oder Volkskundler, wie Jan Piprek; die beiden hatten den für die Jahrhundertwende charakteristischen Bildungshintergrund einer deutschen Germanistik. Galt Żygulski vor allem als ein hervorragender Kenner der Theaterproblematik und als profilierter Hebbel-Forscher, so lag die wissenschaftliche Stärke Jan Pipreks und auch seine bedeutendste Leistung im lexikografischen Bereich. Das Großwörterbuch Deutsch-Polnisch sowie das Großwörterbuch Polnisch-Deutsch entstanden in der Zeit von 1957 bis 1970, wurden mehrfach verlegt, modifiziert und ergänzt. Man muss betonen, dass die Konzentration der Barockforschung auf Marian Szyrocki erst mit dessen internationalen Erfolgen Anfang der 60er Jahre einsetzte; mit dieser Problematik befassten sich in den 50er Jahren fast alle Mitarbeiter des Lehrstuhls. Mieczysław Urbanowicz forschte zur deutschen Literatur der Aufklärung und der Romantik in Schlesien (Kunicki 2011, 307-323). Er modernisierte das didaktische Profil des Lehrstuhls, indem er stufenweise die neuere und neueste österreichische Literatur einführte. Als Hauptziel der wissenschaftlichen Aktivität betrachtete Urbanowicz die Schaffung einer Geschichte der schlesischen Literatur vom 17. bis 20. Jahrhundert. Den zweiten Schwerpunkt stellten die Forschungen zur deutschen Romantik dar, die sich nach 1966, also nach der (in Posen) erfolgten Habilitation von Gerard Kozielek, entwickelten. Im Spektrum der zu erforschenden Probleme sah man auch die zeitgenössische deutsche und österreichische Literatur, die skandinavischen Literaturen (vor allem die dänische), Forschungen zur Rezeption der polnischen Literatur in Deutschland sowie der deutschen Literatur in Polen. Im Zentrum des sprachwissenschaftlichen Interesses sollten Forschungen zur Syntax und Phonologie der neugermanischen Sprachen stehen. Man sieht also, dass die Forschungen zum schlesischen Barock ihren „Begründungscharakter“ verloren, an Bedeutung gewannen dafür Forschungen zur zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Andererseits agierte Szyrocki sehr geschickt, diesmal im westdeutschen Raum, indem er seine Gryphius-Monografie bei Niemeyer veröffentlichte sowie zwei Editionsprojekte, Werke von Anderas Gryphius und Daniel Czepko, mitbetreute. Während die literaturwissenschaftliche Forschung eine dominierende Rolle am Lehrstuhl spielte, begannen sich seit Mitte der 50er Jahre auch profilierte sprachwissenschaftliche Forschungen, vor allem von Marian Adamus sowie Norbert Morciniec, zu entwickeln. Neben Adamus sicherte auch Norbert Morciniec mit seiner 1964 in Breslau veröffentlichten Abhandlung „Die nominalen Wortzusammensetzungen in den westgermanischen Sprachen“ der Breslauer Sprachwissenschaft eine international anerkannte Position (Cirko 2001, 92).
1957 erschien das erste Heft der bis heute bestehenden prominenten wissenschaftlichen Zeitschrift „Germanica Wratislaviensia” – einer Reihe, die seit ihrem Beginn von Marian Szyrocki herausgegeben wurde. Die Zeitschrift druckte nicht nur Aufsätze von Mitarbeitern des Lehrstuhls, ab 1960 war sie auch international ausgerichtet. Die Wende brachte zwei grundsätzliche Änderungen für das Institut: Zum einen kam es zum Generationenwechsel. Die zweite Generation der Breslauer Germanisten wurde durchdie dritte abgelöst, was mit einer Häufung von Habilitationen Mitte der 90er Jahre verbunden war: Professorenposten und Lehrstühle übernahmen nacheinander: Wojciech Kunicki (1993), Miroslawa Czarnecka (1997) und Iwona Bartoszewicz (2000). 1999 gründete Marek Hałub nach dem Tode von Konrad Gajek den Lehrstuhl für Kultur der deutschsprachigen Länder und Schlesiens. Roman Lewicki gründete den Lehrstuhl für Glottodidaktik (1994), der sich vom Lehrstuhl für angewandte Linguistik trennte, an dessen Spitze Eugeniusz Tomiczek stand. Anfang 1999 wurde der Lehrstuhl für Allgemeine Linguistik dem germanistischen Institut angegliedert. Lehrstuhlleiter wurde Leslaw Cirko. In demselben Jahr wurde in Zusammenarbeit mit Prof. Ulrich Engel ein Großprojekt abgeschlossen, an dem sich „beinahe alle führenden germanistischen Institute in Polen beteiligt haben” (Cirko 2001, 104): die Deutsch-polnische kontrastive Grammatik. In den nächsten Jahren entstanden drei weitere linguistische Forschungsstellen: die Forschungsstelle für Skandinavistik (als Weiterführung der Forschungstradition des von Marian Adamus geleiteten Lehrstuhls für Skandinavische Sprachen) unter der Leitung von Prof. Krzysztof Janikowski und nach seiner Pensionierung von Józef Jarosz, die Forschungsstellefür Translatorik unter der Leitung von Dr. habil. Anna Małgorzewicz und die allerjüngste: die Forschungsstellefür Medienlinguistik unter der Leitung von Dr. Roman Opiłowski.
Auch an den literaturwissenschaftlichen Lehrstühlen kam es zu Wandlungen. Die Stelle Norbert Honszas übernahm Irena Światłowska-Prędota und 2014 Tomasz Małyszek. Es entstand der Lehrstuhl für Literaturdidaktik unter der Leitung von Edward Białek. 2007 wurde der jüngste, von Lucjan Puchalski geleitete Lehrstuhl für Österreichische Literatur gegründet. Nicht unerwähnt sollen drei weitere Forschungsstellen bleiben: die Forschungsstelle für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (Leiterin: Urszula Bonter),die Forschungsstelle für Literatur-Ästhetik (Leiter: Tomasz Małyszek), die Forschungsstelle für Neue Medien und Literatur (Leiter: Jacek Rzeszotnik). Die jungen Professoren sind vor allem in internationalen Gremien aktiv. Sie koordinieren internationale Projekte (zum Beispiel zur Geschichte des Verlagswesens in Breslau, in Zusammenarbeit mit dem Bundesinstitut für Osteuropaforschung in Oldenburg) und organisieren die Forschung und Lehre am Institut. Die Breslauer Germanistik hat neue Forschungsrichtungen kreiert, wie zum Beispiel die regionalistische Kulturkunde, die von Marek Halub und Anna Manko Matysiak in der Reihe „Schlesische Gelehrtenrepublik” vertreten wird. Ähnlich ist die in Leipzig erscheinendeliteraturwissenschaftliche Reihe „Schlesische Grenzgänger” ausgerichtet. Sie basiert auf einem Zyklus von periodisch veranstalteten internationalen Tagungen, die auch lokale Gemeinschaften in Zobten, Breslau, Habelschwerdt, Trebnitz, Neisse und Kreuzburg zur Mitarbeit animieren. Die Problematik der regionalen Literatur findet ebenfalls ihren Ausdruck in den von Edward Bialek betreuten Dissertationen sowie in den beiden am Germanistischen Institut erscheinenden Zeitschriften: „Orbis Linguarum” und „Silesia Nova”. Im Rahmen der neuen interdisziplinären Reihe „Scientiarum Primitiae“, die von dem Mitarbeiter Edward Białeks, Krzysztof Huszcza, initiiert wurde,habenauch die Absolventen der Germanistik (nicht nur der Breslauer Germanistik)die Möglichkeit erhalten, ihre herausragenden Magisterarbeiten zu veröffentlichen. Neben dem Redaktionsleiter istauch ein anderer Germanist und Linguist, Prof. Artur Tworek, zu nennen. Neben der intensiven Zusammenarbeit im Rahmen wichtiger internationaler Projekte sorgen die Breslauer Linguisten dafür, die Breslauer Germanistik zu einem internationalen Zentrum der linguistischen Forschung und Lehre zu machen. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die jährlich unter der Leitung von Lesław Cirko organisierten linguistischen Konferenzen in Karpacz sowie die alle zwei Jahre vom Lehrstuhl für Deutsche Sprache unter Leitung von Iwona Bartoszewicz veranstalteten „Linguistischen Treffen in Wrocław“. Die Breslauer Linguisten geben zwei thematisch hauptsächlich auf die sprachwissenschaftliche Problematik ausgerichteteZeitschriften heraus: „Studia Linguistica“ und „Linguistische Treffen in Wrocław“, wobei die zweite der hier genannten Reihen als Versuch zu verstehen ist, die linguistische Problematik auch im interdisziplinären Gefüge zu präsentieren. Das Verzeichnis der im Institut erscheinenden wissenschaftlichen Reihen wäre unvollständig ohne die neuste linguistisch-translatorische Zeitschrift „Studia Translatorica“, die unter der Leitung von Anna Małgorzewicz den Stand der aktuellen Übersetzungswissenschaft und -problematik im internationalen Gefüge mit Deutsch als Ausgangs- bzw. Zielsprache in allgemeinen und fachsprachlichen Kontexten präsentiert. Am Germanistischen Institut werden alle sprachwissenschaftlichen Felder intensiv erforscht; neben strukturalistisch ausgerichteten Projekten werden auch andere realisiert, die im Bereich der Pragmalinguistik bzw. der angewandten Linguistik und den damit assoziierten Feldern, wie etwa der Rhetorik, Argumentationsforschung, Phraseologie, Medienforschung und Fachsprachenforschung, angesiedelt sind.
Ein besonderes Problem der letzten Jahre ist die Gewinnung von Studierenden und ihre Bindung an das Institut, insbesondere in Anbetracht dessen, dass das Interesse für die deutsche Sprache landesweit abnimmt und die Zahl der Studienanfänger infolge des demografischen Tiefs systematisch sinkt. Man darf aber hoffen, dass dieses traditionsreiche Institut, das auf eine stolze Tradition zurück und in eine sichere Zukunft nach vorne blickt, in hohem Maße zur Entwicklung der Germanistik – und nicht mehr einer „Auslands-Germanistik” – beitragen wird.
LITERATUR:
- Cirko, Lesław, Die germanistische Linguistik in Wroclaw, in: Honsza, Norbert (Hg.), Germanistik 2000 Wrocław-Breslau, Wrocław 2001, S. 89-104.
- Honsza, Norbert, Swiatlowska, Irena, Zwischen Tradition und Gegenwart, in: Honsza, Norbert (Hg.), Germanistik 2000 Wrocław-Breslau, Wrocław 2001, S. 68-88.
- Kunicki, Wojciech, Zybura, Marek (Hg.), Germanistik in Polen, Zur Fachgeschichte einer literaturwissenschaftlichen Auslandsgermanistik – 18 Porträts. Osnabrück 2011.
- Żarski, Krzysztof, Jan Piprek (1887-1970), in: Kunicki, Wojciech, Zybura, Marek (Hg.), Germanistik in Polen, Zur Fachgeschichte einer literaturwissenschaftlichen Auslandsgermanistik – 18 Porträts. Osnabrück 2011, S. 63-93.
[Dieser Text ist eine gekürzte Version des Artikels: Kunicki Wojciech/Bartoszewicz Iwona: Zur Geschichte der Germanistik in Wrocław (1945-2013). In: Tribüne. Zeitschrift für Sprache und Schreibung (Germanistik in Polen II) 3/2013 9-16.]